Je länger ich weg bin, umso spannender wird jede Wiederkehr. Hier ist Entwicklung und Veränderung. Robuster Fortschritt – mit Händen zu greifen. Wenn das Krise ist, will ich erst den Aufschwung sehen!
Meine dreizehn Jahre in der Stadt enden an einem Junimorgen 2009 am Check-in von Scheremetjewo-2. In Gedanken schon im nahen Urlaub mit Familie und Freunden auf einer Finca im Mittelmeer, fiel mir die Abreise leicht. Ich bin so – abhaken, das war’s, mal gucken, was kommt. Ungefähr wie Festplatte formatieren und neues Betriebssystem aufsetzen.
Dass ich nicht nur täglichen Mega-Stau, Business po-russki und nervende Aufenthaltsregeln hinter mir ließ, sondern vor allem Menschen, die mir etwas bedeuten, drang erst später zu mir durch.
Und auch, dass das jahrelange Unterwegssein zwischen Petersburg, Baikal und Kamtschatka Spuren in mir hinterlassen hatte. Russische Seele, Mütterchen Russland, Schaschlik am Lagerfeuer.
SFX-SVO, Boarding nach Moskau mit Zettel und Stift
Mit gereizter Gelassenheit mogeln wir uns durch das Chaos beim Boarding nach SVO in Berlin-Schönefeld. Das Computersystem hatte sich rechtzeitig zum Einstieg aufgehängt. Unsere Reichshauptfavela wie sie leibt und lebt – Lotter und Verfall. Niedergang in seiner peinlichsten Form. Früher konnte mir ein Flug Berlin-Moskau schlechte Laune verursachen. Heute freue ich mich wegzukommen.
Der erfahrene Moskau-Reisende erinnert sich vielleicht an die Warteschlangen an der Passkontrolle im Airport Scheremetjewo-2 der Neunziger. Wenn man Pech hatte, geriet man hier in eine Menschentraube biblischen Ausmaßes und kämpfte sich dann stundenlang zum Schalter durch. Ich hatte manchmal dieses Pech.
Moskau Scheremetjewo
Heute Abend – nichts dergleichen. Binnen Minuten passieren wir den geräumigen, modernen Kontrollbereich. Schicke Uniform und selbstbewußte Körpersprache der resoluten Beamtin, der fast sogar ein Lächeln unterläuft, sind die neuen Äußerlichkeiten der amtlichen russischen Willkommenskultur. Auch sonst ist alles anders hier – groß, modern, licht. Scheremetjewo scheint, anders als Schönefeld, im 21. Jhd. angekommen.
Jenseits der Zollkontrolle, von der wir unbehelligt bleiben, werden wir nicht von Dutzenden kaukasischen Taxifahrern bedrängt wie einst, sondern von Chauffeur Jewgenij erwartet, den wir zuvor über ein Online-Portal gebucht hatten.
Die verschwundenen Landmarken am Leningradskij Prospekt
Unser Hotel liegt eingangs der Twerskaja Uliza, schräg gegenüber vom Weißrussischen Bahnhof. Die Gegend ist sowas wie unser Familienkiez in Moskau. Hier hat sich, wie überall in der Stadt, in den Jahren so viel verändert, dass es eine kurze Zeit braucht, bis ich mich daran gewöhne.
Ob Stadion der Jungen Pioniere samt Eishalle oder altes Dynamostadion, die legendäre Süßwarenfabrik „Bolschewik“ oder das Uhrenwerk Nr. 2 – viele der Landmarken jener Zeit gibt es nicht mehr. An ihre Stelle traten teure Wohnviertel, Prestige-Arenen, hippe Lofts oder schlicht Brachen. Eine enorme bauliche Verdichtung erschafft in alten Hinterhöfen neue Premium-Quartiere samt einer für die Gegend bis dato untypischen urbanen Modernität aus hippen Boutiquen, teuren Büros und lässigen Bistros. Auf Lesnaja Uliza wurde aus einem alten Trolleybusdepot eine angesagte Shop & Dine-Destination, das „Depo“ – europäisches Spitzenfeld.
Moskaus neue Sauberkeit und Ordnung
Die neue Sauberkeit und Ordnung in Moskaus Zentrum beendet nicht nur das brutale Zuparken der Innenstadt samt ihrer Gehwege. Sie bringt nicht bloß ein dichtes Netz von Überwachungskameras, das zu einer deutlichen Verkehrsdisziplinierung führt, weil Regelverstöße direkt und drastisch bestraft werden. Und sie bedeutet nicht nur eine groteske Vielzahl an Kehrmaschinen, die in Keilformation Fahrbahnen und Gehsteige auf Hochglanz wichsen. Überall sichtbar bedeutet sie eben auch eine Säuberung von allem Ausländischen in der City – von den rigoros entfernten Leuchtreklamen und Billboards bis zu den einst emblematischen und jetzt geschlossenen Restaurants der ausländischen Community: Australian Open, American Grill Bar, T.G.I. Friday’s, Scandinavia – sie gibt es alle nicht mehr. Die Fahrzeuge im Dauerstau sind freilich durchweg „Inomarki“.
Das Stadtbild Moskaus ist in einer Weise clean, die an Sterilität grenzt. Ich empfinde den Kontrast zur Berliner Lotterwirtschaft allerdings als wohltuend: E-Bikes und Scooter liegen hier nicht an der Straßenecke herum, sondern haben feste Stellplätze samt Ständer. Und genau da stehen sie auch. Es gibt auch keine Grafitti-Schmierereien, nirgends. Geht doch!
Fakten-Check: Sanktionen. Welche Sanktionen?
Natürlich interessieren mich die im deutschen Fernsehen immer wieder gern erwähnten Versorgungsdefizite, das nach Westimporten lechzende einfache Volk. Schon aus beruflichem Interesse lasse ich auf meinen Reisen keinen Supermarkt aus, der irgendwie am Wege liegt. Ich besuche vier-fünf Läden unterschiedlicher Formate und gebe Entwarnung: Niemand wird hier hungers sterben. Ja, mancher Kategorie fehlt die letzte Redundanz und frisches Fleisch gab es früher in größerer Auswahl. Es könnten wieder mehr Konserven sein als ehedem. Von schmerzhaften Engpässen kann gleichwohl keine Rede sein. Bei frischem Obst und Gemüse kann sich Russland auf stabile Vielfalt aus den südlichen Ex-Sowjetrepubliken verlassen, und was heißt schon EU-Sanktionen? Es gibt doch noch China, Vietnam, Indien. Die Frischestände im „Depo“ (eine Art Viktualienmarkt) oder die Auslagen im „Jelissejewskij“ (historischer Premium-Supermarkt auf der Twerskaja) sind mit so ziemlich allem bestückt, was man für Geld kaufen kann.
Für oder gegen Putin – sie sind frei und stolz auf ihr Land
Mein Fazit dieser Reise ist eindeutig: Moskau hat mich positiv beeindruckt durch seine Sauberkeit und seine allenthalben spürbare wirtschaftliche Dynamik. Die Verkehrsinfrastrukturinvestitionen der Stadt der letzten Dekade dürften denen der Bundesrepublik gesamt seit der Wiedervereinigung kaum nachstehen. Man bewegt sich frei und fühlt sich unbedrängt auch nach Einbruch der Dunkelheit. Den Freunden von einst geht es gut, ich höre auch im kleinen Kreis niemanden klagen. Sie haben sich arrangiert mit der Entrücktheit ihrer politischen Kaste und gelernt, mit dem wirtschaftlichen Auf und Ab umzugehen. Sie sind für oder gegen Putin, aber stolz auf ihr Land. Sie sind frei und haben für den einst bewunderten Westen, aus dem ich komme, gerade noch ein mitfühlendes Achselzucken.
Bunter Korso zur Begrüßung
P.S. Zurück in Berlin wählt unser Taxifahrer an diesem Sonntagnachmittag eine Route über Tempelhof/Neukölln nach Mitte. Zur Begrüßung geraten wir in einen dieser türkischen Hochzeitskorsos, in dem wir gut zehn Minuten ungefragt mitfahren müssen, weil es kein Vorbeikommen gibt. Wir werden Zeugen jener ungezügelten Verachtung, die diese Menschen den Regeln und Werten ihres Gastlandes entgegenbringen. Und wir diskutieren leise, wie diese Situation für den Korso wohl in Moskau ausgegangen wäre.