Mein letzter Check-in mit TXL auf dem Ticket
Bei Lichte gesehen bin ich fast dankbar, dass ich es nochmal geschafft habe. Nach monatelanger Flugabstinenz dank Corona-Trubel gehe ich heute – knapp 3 Wochen vor der Schließung – ein letztes Mal am Flughafen Tegel an Bord eines Fliegers.
Die tiefstehende Morgensonne wirft lange Schatten an Gate A05 von Tegel Airport an diesem Oktoberdienstag. Der Fotograf in mir, der mit dem untrüglichen Blick für das Motiv, lässt mich unvermittelt das Handy zücken. In der menschenleeren Abflughalle offenbart sich heute noch einmal die unverwechselbare Ästhetik von TXL. Zum ersten Mal kann ich sie unverstellt wahrnehmen, weil nicht wie sonst hunderte Fluggäste durch’s Bild laufen. Ich begreife die Einzigartigkeit der Gelegenheit und beginne, das leere Terminal in alle Richtungen abzulichten. Für das Archiv sozusagen, oder für diesen Blog.
Schon die Anfahrt hat etwas Unwirkliches. An Autos nehme ich nur Taxis wahr. Die warten, wie immer in geordneter Formation, auf Parkplätzen und vor den Gates auf Fahrgäste. Das Geschäft geht erkennbar schlecht. Kein einziges privates Fahrzeug weit und breit. Kein Kommen und Gehen, Bringen und Abholen, Ein- und Ausladen. Nichts. Die Pandemie hat den Hauptstadtflughafen ins Wachkoma versetzt. Bei strahlendem Sonnenschein dämmert der Patient seiner finalen Abschaltung entgegen.
Drei Dutzend Mal im Jahr ab Tegel Airport
Das Betreten der Abflughalle konnte bei mir zuletzt heftige Cortisol-Schübe und nachhaltige Übellaunigkeit hervorrufen. Die immer länger werdenden Warteschlangen an den viel zu kleinen Sicherheitskontrollen waren für mich der Stresstest schlechthin.
Nicht zuletzt Design und Beschriftung der Passagierbrücken tragen zur Unverwechselbarkeit von TXL bei.
Selbst der geneigte Vielflieger hatte wenig von seinem Privileg der Lounge-Benutzung, weil er die Wartezeit an der Security-Schlange von seiner Kaffeepause bei den Frequent Travelern abziehen musste. Wenigstens konnte er dort noch eine saubere Toilette benutzen, bevor er sich in die teils schäbigen Niederungen der allgemeinen Abfertigung begab. Dabei war meine Wahrnehmung von TXL nicht von Anfang an eine schlechte.
Wenn wir vor 1989 vom Fernsehturm aus im Nordwesten der geteilten Stadt die Flieger am nahen Flughafen Tegel starten und landen sahen, dann war dort für uns der ‚Westen‘. Unerreichbar für immer, obwohl nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt. Als dann alles ganz anders kam, wurde TXL meine Startrampe in die Welt.
Am Anfang flog ich mehr dienstlich, oft mit dem ‚Beamten-Shuttle‘ nach Köln-Bonn. Das wurde von der seligen Germania betrieben und sorgte für das teure Hin und Her zwischen alter und neuer Hauptstadt. Anfang der Neunziger fuhren wir noch mit dem Auto in den Urlaub, so dass Privatflüge eher selten vorkamen. Dafür startete ich nun eine geschäftliche Vielfliegerkarriere, die mich fast 30 Jahre lang mit dem Airport Tegel innig verband. Von Moskau bis Shanghai und von Tallinn bis Bukarest dürfte ich so alles geflogen sein, was direkt oder mit Umsteigen von TXL aus erreichbar war. Nach dem Wechsel vom Auto auf den Flieger gab es nun auch die alljährlichen Urlaubsreisen mit der Familie mit 1-2 Prosecco im ‚Red Baron‘ vor dem Abflug und der launigen Vorfreude auf ferne Länder. Das sind die bleibenden angenehmen Assoziationen mit dem Flughafen Tegel.
Was wohl auch haften bleibt – der unvermeidliche Verspätungsstress bei der Anreise über zugestaute Autobahnen aus dem brandenburgischen Umland (‚Vollsperrung Tunnel Tegel‘) und der obligatorische Spiegel, ohne den ich lange in kein Flugzeug einstieg. Die Staus sind geblieben, der Spiegel nicht. Und dann das noch: In all den Jahren unterwegs bin ich zweimal bestohlen worden – einmal davon im Flughafen Tegel. Das Gefühl, plötzlich ohne alles dazustehen, hat sich mir traumatisch eingebrannt.
Das war's. War's das?
Als ich heute ins Terminal komme, umfängt mich gespenstische Leere. Keine Warteschlangen, keine Imbiss-Stände, nur vereinzelte Reisende. Tegel Airport mit kaum messbaren Vitalwerten.
Es ist, als hätte das Virus sein Aus um Wochen vorverlegt. Auf den Monitoren passen alle Abflüge des Tages auf zwei Bildschirme. Ohne jede Wartezeit erreiche ich die Kontrolle im Sicherheitsbereich. Die Kollegen erscheinen mir heute besonders zuvorkommend. Am Gate dann doch letzte Regungen am Imbiss-Stand. Ich genehmige mir einen zeitigen Sekt mit Abstandsregel und Hygienekonzept. Beim Blick nach draußen auf den Finger mit ‚Flieger <–> Überflieger‘ kommen mir Zweifel, dass die hier wirklich dicht machen. Und wenn doch: Auf dich TXL, könnte sein, dass du mir fehlen wirst!